Tuesday, November 09, 2010

Necla Keleks: Aus Muslimen müssen freie Bürger werden

Necla Kelek, sociologist and feminist of Turkish descend, received the Freedom Prize of the Friedrich-Naumann-Stiftung.

At the award night she gave a speech addressing the issue of how Muslims have responsibility, that goes hand in hand with the rights as equal citizens, to defend the freedom.

The Jury gave the following reason for awarding the Prize to Keleke:

Necla Kelek has engaged in the integration debate (in Germany) with strong personal commitment to openness, balance and honesty that is not without personal risks. Her commitment reflects a clear and principled stand in the defence of the value of freedom. (http://www.focus.de/panorama/vermischtes/friedrich-naumann-stiftung-necla-kelek-erhaelt-freiheitspreis_aid_561828.html)

Her speech is in part reproduced in FAZ.
09. November 2010

NOTE: if there is a request via comments, I will translate this article.

Die Liebe“, sagte ein inzwischen vergessener Dichter des Vormärz, „ist das Höchste im Leben, aber höher als das Leben steht die Freiheit.“ Lassen Sie uns also über Freiheit sprechen, denn ich habe den Eindruck, dass wir diesen Begriff von der Beliebigkeit und der populistischen Vereinnahmung befreien müssen. Lassen Sie mich zuerst etwas über die Freiheit der Frauen sagen.

Ich habe vor fünf Jahren einen Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, „Die fremde Braut“, veröffentlicht und auf das Schicksal der türkischen „Importbräute“ aufmerksam gemacht und von Frauen und Mädchen berichtet, die aus traditionellen, religiösen Gründen fremdbestimmt verheiratet und ins Land geholt werden und praktisch in Apartheit und Unfreiheit in einer Gegengesellschaft leben müssen.

Dies hat bis heute eine enorme Resonanz gefunden und neben anderen Ereignissen einen grundlegenden Streit über Integration und den Islam ausgelöst. Dass dies möglich war, verdanken wir vor allem den Medien, unter anderem Alice Schwarzer und ihrer Zeitschrift „Emma“, die sich früher und intensiver als alle anderen dieses von Politik und Wissenschaft verdrängten Themas angenommen hat. Ich habe von Alice, der Abla, der großen Schwester der Frauenbewegung gelernt, jenseits der politischen Moden mit heißem Herzen und kühlem Kopf nie den Kern, die Lage der Frauen und die Rechte der Menschen, aus den Augen zu verlieren. Ich war persönlich und bei meinen publizistischen und wissenschaftlichen Arbeiten nie Opfer, nie Betroffene, sondern immer ganz bei mir und der Sache.

Verbot der Zwangsheirat als symbolischer Akt der Ächtung

Ich habe kein besonderes Schicksal, sondern mein Leben verlief wie das vieler anderer. Deshalb taugt es gelegentlich auch als Beispiel. Ganz so wie der große Soziologe Richard Sennett die Wirkungen der Moderne auf den Einzelnen an sich selbst beschrieb. Der medialen Aufmerksamkeit ist es zu verdanken, das jetzt das seit Jahren eingeforderte Gesetz gegen Zwangsheirat Wirklichkeit werden soll. Es ist mehr als ein symbolischer Akt. Es ist die gesellschaftliche Ächtung einer unsäglichen Praxis, von Tausenden von „Einzelfällen“, bei der junge Menschen gegen ihren Willen verheiratet werden. Wir werden dieses Gesetz mit Leben erfüllen und Notruftelefone und qualifizierte Betreuung bereitstellen müssen, um es tatsächlich zu einem Instrument der Befreiung zu machen.
Die Forderung nach dem Verbot der Zwangsehe, einem Mindestalter von achtzehn Jahren und Sprachkenntnissen von dreihundert Wörtern Deutsch bei der Familienzusammenführung und die Analyse des Zusammenhangs von Patriarchat, Tradition und religiöser Legitimation trafen und treffen bei Türken- und Islamverbänden, bei Migrationsforschern und vielen Politiken auf Widerstand und Ablehnung. Sie nannten mich, damals wie heute, eine Verleumderin des Islam und der Türken, weil ich sage, was in diesen Communities als Tabu gilt, weil ich nicht nur verstehen und helfen, sondern aufklären und ändern will. Aber, allen Kritikern zum Trotz, die Zahl der Importbräute hat sich in den letzten Jahren um zwei Drittel reduziert, weil es unbequem geworden ist, eine Braut nach Deutschland zu holen. So haben Zehntausende junger Frauen und Männer dank einer einfachen gesetzlichen Maßnahme vielleicht eine kleine Chance, über ihr eigenes Leben zu bestimmen.

Vom Unterschied zwischen Freiheit und Beliebigkeit

Die grüne Parteivorsitzende zum Beispiel hat solche Sorgen nicht und macht sich lustig über die, die „ein paar Unterschiede in den Kulturen nicht aushalten können“. Als wenn es in der Integrationsdebatte um Sushi oder Shisha und nicht um elementare Menschenrechte ginge! Dieser vor allem unter Intellektuellen verbreitete moralische Hochmut, der alles und jedes relativiert, der Probleme kleinredet, wenn es nicht die eigenen sind, der Sorgen verhöhnt, der Freiheit mit every things goes verwechselt, der vor lauter Beliebigkeit nicht mehr weiß, dass Freiheit ohne Verantwortung sich selbst abschafft - diese Verantwortlichen sind die wahren Integrationsverhinderer.

Die Debatte hat sich, aufgrund der drängenden sozialen Probleme und aktuell Dank des mit kühlem analytischem Verstand geschriebenen Buches von Thilo Sarrazin, ausgeweitet und ist über die Ufer der Diskussion um Frauenunterdrückung im engeren Sinne getreten. Sarrazins Analyse ist eine Abrechnung nicht nur mit einzelnen Fehlern der Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik, sondern er stellt den Politikansatz des „Verstehen und Helfens“, der Sozialpolitik als Sozialarbeit, in Frage. Statt dessen fordert er die Verantwortung des Einzelnen, auch der Migranten. Freiheit heißt auch für Migranten, für sich selbst einzutreten und Verantwortung zu übernehmen. Man mag das für kalt halten, und ich muss auch nicht mit allen Ansichten Sarrazins und seinem Ton einverstanden sein; man kann seine Ursachenbeschreibung bezweifeln - aber sein Buch stellt ohne Zweifel schon jetzt eine Zeitenwende in Sachen Integrationspolitik dar.

Umschulung Ostdeutschlands „auf Demokratie“ ist ein Vorbild

Lassen Sie mich den Satz, der wahlweise mit „Islam“ oder „Christentum“ beginnt und mit „gehört zu Deutschland“ endet, um einen Gedanken erweitern. Auch dabei geht es um Freiheit - und den Sozialismus. Der Sozialismus gehörte noch vor etwas mehr als zwanzig Jahren zu Deutschland. Die DDR war Realität, und wer das Lebensmodell Sozialismus vor 1989 in Frage zu stellen wagte, wurde im Westen als ein Ewiggestriger, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hatte, belächelt und war im Osten ein Dissident, der abgestraft wurde. Ich lebe jetzt seit mehr als vierzig Jahren in Deutschland und bin 1991 nach meinem Studium und nach dem Fall der Mauer für fast sieben Jahre in die neuen Bundesländer gegangen, um neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität in Greifswald, in Neu-Brandenburg und Wolgast ehemalige Verwaltungskräfte „auf Demokratie“ zu schulen.

Für die gegenüber „Wessis“ wie mich zuerst sehr distanzierten ehemaligen Bürger der DDR war Freiheit nicht unbedingt das, was in der bürgerlichen Gesellschaft darunter verstanden wurde. Freiheit war „die Einsicht in die Notwendigkeit“, also das, was wissenschaftlich als notwendig bewiesen, das heißt: das, was die Partei beschlossen hatte. Freiheit war ein kollektives Gut, denn „erst in der Gemeinschaft mit anderen hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich“, so Marx und Engels.

Der Freiheitswille einer Sechzehnjährigen

Als ich einmal meine in der türkisch-muslimischen Tradition verhaftete Mutter fragte - ich war sechzehn oder siebzehn Jahre alt -, wann ich frei sein würde in dem Sinne, dass ich für mich entscheiden könne, sagte sie mir: „Die Freiheit ist nicht für uns gemacht.“ Sie verstand meine Frage nicht. Für sie war „frei sein“ gleichbedeutend mit „vogelfrei“ sein, das heißt, ohne Schutz sein. „Frei sein“ bedeutet im Common-sense der Umma schutzlos, verlassen sein - verlassen von der Familie, dem Clan, dem Schutz der Gemeinschaft. Der Preis dieses Schutzes ist die Macht der Männer über die Frauen.

Die Frau ist im Zweifelsfall der Gewalt der Männer ausgeliefert, denn die Männer der Familie schützen die Frauen vor der Gewalt fremder Männer. Ist der eigene Mann gewalttätig, so ist das „Kismet“, Schicksal. Männer sind in der Lebenswelt immer noch vieler muslimischen Frauen Beschützer und Bewacher. Für viele muslimische Frauen ist es die Freiheit „von etwas“: frei vor Anfeindungen Fremder, aber auch frei von Verantwortung für sich selbst, frei von eigenem Willen.

Die islamischen Wurzeln in Europa

Der Islam war wie die anderen monotheistischen Religionen keine Religion des Friedens, sondern militärisch aktiv und aggressiv; versprach diese neue Religion den Kriegern doch entweder reiche Beute oder den direkten Weg ins Paradies. Im Orient hatten sich im siebten und achten Jahrhundert die griechischen Philosophen mit der Lehre des Talmud und des Christentums, in Kriegen und Streit erschöpft und zerrieben. Griechische Philosophie wurde vor allem noch im dann von den Muslimen eroberten Bagdad gepflegt. Es gab Ansätze, die aristotelischen Weisheiten mit den neuen muslimischen Ideen zu versöhnen, aber die Dogmatiker siegten, ächteten diesen rationalen Ansatz und setzten eine eigene Denkschule durch.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch das Märchen entzaubern, dass immer wieder erzählt wird und die Bedeutung des Islam für die europäische Kultur beschreibt. Man sagt, der Islam hätte die Gedanken des Aristoteles für Europa gerettet. Das ist eine stark beschönigende Aussage. Es gab neben anderen den spanisch-arabischen Philosophen und Mystiker Ibn Rushd, genannt Averroes, der im zwölften Jahrhundert die verloren geglaubten Werke von Aristoteles in Cordoba ins Arabische übersetzt und kommentiert hat. Er setzte sich in einem Kommentar dazu mit dem Verhältnis von Offenbarung und Vernunft auseinander. Das forderte den Widerstand der muslimischen Schriftgläubigen heraus.

Islam empfindet die Philosophie als widerlegt

Der Vertreter der islamischen Orthodoxie, Al-Ghazali, versuchte, über den Zweifel Gewissheit in Gott zu erlangen, verfiel aber zunehmend der Skepsis und verlor sein Vertrauen in die Vernunft und fand eigene Gewissheit im Glauben. Schließlich lehnte er die Philosophie als eigenen Weg zur Wahrheit ab und verteidigte im Koran die Offenbarung und die darin verbürgte Erschaffung der Welt durch Allah. Al-Ghazali war es also letztlich, der den Islam mit seiner „Widerlegung der Philosophen“ gegenüber jedwedem Zweifel versiegelte und die Religion damit in jenes Gehäuse verbannte, das ihr bis heute jede Möglichkeit zu Innovation, Weiterentwicklung und Modernisierung raubte.

Der heute von den Muslimen als Beleg angeführte Ibn Rushd wurde von den Vorbetern verbannt, seine Lehren und die des Aristoteles wurden in der islamischen Welt verworfen. Der Beitrag der islamischen Philosophie zur europäischen Kultur ist aus muslimischer Sicht bis heute Häresie. Ibn Rushd war ein islamischer Dissident. Bevor sich die Muslime auf ihn berufen, sollten sie ihn rehabilitieren.

Mit der Leugnung der Philosophie hat sich die islamische Welt letztlich vor fast eintausend Jahren aus dem kulturellen Diskurs in Europa verabschiedet. Der Islam hat sich in den letzten fast eintausend Jahren nicht nur der Philosophie, sondern auch den Naturwissenschaften verschlossen. Die Freiheit des Denkens verschwand unter dem Gebetsteppich. Waren in den ersten Jahrhunderten des Islam noch Mathematiker, Mediziner, Astronomen führend, so verfielen auch die Naturwissenschaften in den folgenden Jahrhunderten in Agonie. Noch heute hängen die islamischen Länder am technologischen Tropf des Westens. Die verzweifelten Anstrengungen, wenigstens die Technologie für die eigene Ölförderung zu bewältigen, gehört zu den unverarbeiteten Kränkungen der islamischen Welt. Computer und Handy sind eben nicht nur ein Stück Technik, sondern Ergebnis von fünfhundert Jahren Kulturgeschichte des Westens.

Rechtsstaatlichkeit vor allen Despoten und Göttern

Lassen Sie uns jetzt über die Geschichte der Freiheit in Europa sprechen. Die Polis, die Stadtstaaten der griechischen Antike, waren die ersten staatlichen Organisationen, die die Gleichheit der Bürger, allerdings nur der freien Männer, vor dem Gesetz gewährleisteten. Aristoteles propagierte die Herrschaft des Gesetzes, also die Rechtsstaatlichkeit vor allen Despoten und Göttern. Ein Regime, in dem das Volk und nicht das Gesetz regiert, ist deshalb keine Herrschaft der Freiheit, schrieb er, und so verdanken wir den Griechen nicht nur die Demokratie, sondern auch das Rechtssystem.

Dies wurde von Cicero in Rom um das Konzept der Humanität und des Strebens nach Bildung erweitert. Er schuf das Personenstandsrecht und das Recht am Eigentum - eine der Voraussetzungen dafür, dass sich das unabhängige Individuum entwickeln und vom Kollektiv des Stamms lösen konnte. Juden- wie Christentum folgten der Idee der Gleichheit vor Gott, und mit der Figur Jesus Christus wird die individuelle Verantwortung eine Kategorie des Handelns - Werte, die im Weltbild des sich im siebten, achten Jahrhundert sich herausbildenden Islam keine Rolle spielten. Die „gleiche Freiheit“ der Antike wurde dort zur „gleichen Hingabe oder Unterwerfung unter den Willen Allahs“.

Das Gewissen wird zum Maßstab moralischen Handelns

Der von Averroes inspirierte Theologe Thomas von Aquin identifizierte den Menschen als Subjekt, als Handelnden der Geschichte, und attestierte ihm Willensfreiheit auch in den Beziehungen zu Gott. Er öffnete damit gedanklich das Zeitalter der Wissenschaft in Europa. Mit Reformation und Renaissance erkannte man im Norden die Notwendigkeit der Säkularisierung, die Zwei-Reiche-Theorie Luthers, die Trennung der weltlichen und geistigen Macht und gleichzeitig die Herausbildung des persönlichen Gewissens als Maßstab menschlichen Handelns.

Das Reich Gottes ist für die christliche Lehre seitdem „nicht von dieser Welt“ und damit auch nicht mit menschlichen Maßstäben zu richten, während auf der Erde nach einer überprüfbaren Ordnung gesucht wurde. Entscheidungen im „Diesseits“ wurden einerseits in das Innere der Person, das Gewissen, verlegt und andererseits nach außen delegiert, das heißt, weltliche Gesetze übernahmen die Rolle des Schutzes und der Bestrafung. Eine Trennung von Diesseits und Jenseits gibt es im Islam nicht; nur als Mitglied dieser Ordnung kann der Muslim seine Pflichten erfüllen. Politik ist folglich für Muslime die Erfüllung des von Allah gegebenen Auftrags, Verantwortung gibt es nur gegenüber Allah.

Im Islam gibt es die Kategorie des Gewissens nicht, denn es liegt nicht in der Entscheidung des Menschen zu beurteilen was gut oder böse ist. Allah gibt vor, was „recht und was verwerflich“ ist. Der Gläubige hat seine Pflichten zu erfüllen, indem er sich an diese Vorgaben hält. Im Zweifelsfall vergibt oder bestraft Allah den Sünder, spätestens beim jüngsten Gericht. Aber Allah allein entscheidet.
Juristischer Kern als gesellschaftliches Fundament ist nicht ausreichend

Das deutsche Grundgesetz ist die Quintessenz der Lehren aus der Geschichte und der Entwicklung dieser den Kirchen abgetrotzten Kultur der Freiheit. Aber wir würden unsere Gemeinschaft auf den juristischen Kern reduzieren, wenn wir es nicht in den Kontext seiner Werte stellten. Es gibt einen „Geist der Gesetze“, wie Montesqiueu es formulierte; der Sozialstaat zum Beispiel ist Ausdruck dieses Geistes der christlichen Nächstenliebe wie der humanistischen Solidarität. Würden wir diesen Kontext leugnen, wäre es so, als würden wir den Wert eines Baumes auf den Holzpreis reduzieren.

Aber ein Baum ist nicht nur Holz, Bäume leben, einige tragen Früchte und spenden Schatten. Die „Freiheitsbäume“ der bürgerlichen Revolution von Mainz, Worms, Hambach und der Paulskirche von 1848 sind lebendige Symbole des Geistes dieses Freiheitswillens. Eine demokratische Gesellschaft braucht Demokraten wie der Baum Licht und Wasser zum Leben. Eine Gesellschaft, die sich nicht immer wieder über diesen Common Sense verständigt und die eigenen Werte nicht immer wieder entwickelt wie ein Baum, dem im Frühling die Blätter wachsen, stirbt, wird ausgehöhlt und ist eine leichte Beute für Käfer oder den Sturm.

Menschenrechte unter dem Vorbehalt der Scharia

Die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungsfreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, die Trennung von Staat und Religion - das alles waren fortan Prinzipien der europäischen Gesellschaft. Gleichheit und Freiheit schlugen sich mit Verzögerung in den Verfassungen und Gesetzen nieder, prägten die Wertorientierung der bürgerlichen Gesellschaft und machen die Identität Europas bis heute aus.

Der politische Islam - und ich meine damit zum Beispiel die 45 Staaten der islamischen Konferenz - stellen die Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia, ihres göttlichen Rechts. Auch die Islamverbände in Deutschland betonen den Scharia-Vorbehalt. Es ist deshalb schwer, Islam und Islamismus voneinander zu trennen, denn die Ablehnung der Säkularität und der Kultur des Westens hat nicht nur eine militante Variante, sondern ist Kern der Politik fast aller islamischen Institutionen.

Religion ist nur ein Teil der Freiheit

Europa steht also nicht nur in der Tradition der monotheistischen Religionen, es ist auch nur bedingt ein christlich-jüdisches Erbe, das die Identität Europas ausmacht. Es ist letztlich der Kampf um die Freiheit des Individuums, es sind die Aufklärung, der Humanismus die unsere liberale aufgeklärte Zivilgesellschaft begründet haben. Die Religionen gehören zweifellos dazu, aber sie sind nur ein Teil dieser Freiheit, nicht die Freiheit selbst. Die Religionen sind Teil unserer Freiheit, aber sie stehen nicht über der Verfassung. Das gilt auch für den Islam.

Lassen Sie uns schließlich über die Freiheit des Islam in Europa reden. Tatsächlich frei sind die Muslime nur im Westen, denn sie können ein Recht nutzen, das es in keinem muslimischen Land gibt: die Religionsfreiheit. In der Türkei zum Beispiel ist jeder Bürger automatisch Muslim, und zwar der staatlich verwalteten sunnitischen Richtung. Die wenigen Christen leben dort im Verborgenen, gehören nicht dazu, und die Aleviten, eine eigenständige, vom Sufismus beeinflusste schiitische Glaubensgemeinschaft, die in einigen Gegenden Zentralanatolien die Mehrheit der Bevölkerung stellt, wird staatlich bevormundet. Der Islam kennt keine Religionsfreiheit, sondern nur die Glaubensfreiheit. Der Satz „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ ist kein Recht, frei von Religion zu sein, sondern nur die Möglichkeit des Gläubigen zu entscheiden, wie man den Glauben ausübt.

Der Islam kennt keine Verbindlichkeit

„Den Islam“ als Institution gibt es nicht, er hat keine Organisation, keine gemeinsame Theologie. Er ist keine Kirche. Der Islam ist Weltreligion und hat keine Adresse. Mit ihm kann man keine Verträge machen, keine Vereinbarungen treffen, er kennt keine Verbindlichkeit. Keiner der Moscheevereine oder Islamverbände kann, auch wenn sie es für sich in Anspruch nehmen, für „den Islam“ oder die Mehrheit der Muslime sprechen.

Die demokratischen Gesellschaften sollten deshalb nicht den Fehler machen, sich auf „den Islam“ als Institut einzulassen. Aber was sollen wir stattdessen tun? Besinnen wir uns auf demokratische Prinzipien, gehen wir zurück auf unser Erbe, besinnen wir uns auf die Freiheit des Einzelnen. Denn genauso wenig, wie es „den“ Islam gibt, kann es „den“ Muslim geben.

Es gibt den anatolischen Landarbeiter, der hier in der Moschee seine Traditionen lebt; es gibt die gebildete säkulare Ärztin, die nie eine Moschee von innen gesehen hat; den Bäcker, der nicht betet, aber sich selbst als gläubig bezeichnen würde. Es gibt die eingesperrte Frau, die abhängig von der Schwiegermutter ist, wie die assimilierte Journalistin, die die Debatte um den Islam für überflüssig hält. Und viele mehr. Und es gibt die kulturellen Strukturen und Traditionen, die man in der muslimischen Familie und Gesellschaft lebt, es gibt dieses „ungefragt Gegebene“ des Muslim-Seins, die Sozialisation, die selbst von Wissenschaftlern, die es besser wissen sollten, allzu schnell als Klischee diffamiert wird.

Angst begegnet man mit Wissen

Als Sozialwissenschaftlerin sehe ich es als meine Aufgabe, diese Bedingungen und Beschränkungen durch Religion aufzuzeigen, um Wege aus der Angst zu beschreiben. Angst begegnet man mit Wissen. Die Muslime haben ein Defizit in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Religion. Es gibt nur in Ansätzen eine kritische Beschäftigung mit dem Koran. Spiritueller Glaube, Tradition und Politik gehen fröhlich durcheinander. Die Freiheit der Wissenschaft, die rationale Beschäftigung mit dem Islam täte den Muslimen gut, um die Denkverbote aufzuheben und zu überprüfen, was von diesem Glauben heute dem Menschen helfen kann.

Die Bürger muslimischen Glaubens in Europa haben die Chance, in Freiheit zu leben. Sie stehen vor der historischen Aufgabe, den Koran mit historisch kritischem Blick zu lesen, sich zu ändern, damit sie in der säkularen Gesellschaft des Westens ihren Platz finden. Und ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der Muslime dies auch will. Sie wollen sich aus der Bevormundung befreien, aber sie brauchen dafür die Unterstützung einer Gesellschaft, die die eigene Freiheit und die jedes einzelnen lebt und verteidigt.

Die Assimilierten in die Verantwortung nehmen

Aber erst, wenn es eine loyale Haltung der Muslime zur Gesellschaft und die Anerkennung des Prinzips der Freiheit des Einzelnen gibt, wenn sie bereit sind, die eigenen Probleme nicht zu verleugnen, sondern anzupacken, werden sie ihrer Verantwortung als Bürger gerecht werden können. Und gerade die Assimilierten und Integrierten, diejenigen, die in der deutschen Gesellschaft angekommen sind und gehört werden, die erfolgreich sind, gerade auf die kommt eine große Verantwortung zu. Sie müssen sich zu den Problemen ihrer Herkunftskultur bekennen, um sie zu lösen.

Ja, die islamische Lebenswirklichkeit ist Teil Deutschlands; ja, die Bürger muslimischen Glaubens sind Teil Deutschlands. Aber sie sind auch mehr. Sie sind Citoyens und keine Opfer. Sie sind auch das Volk. Das heißt, ihre Freiheit ist zu schützen, gleichzeitig aber ihnen auch Verantwortung abzufordern. Unsere Gesellschaft macht das Angebot der Freiheit. Es ist an den Muslimen, dies als Chance zu begreifen.

Lasst uns die Freiheit erobern. Denn nicht die Scharia, nicht die Einheit von Staat und Religion, nicht der Anspruch der Umma auf Unfehlbarkeit, nicht die Apartheit von Mann und Frau darf Teil Deutschlands werden. Das wäre Verrat an der Freiheit, unserer Verfassung und den Muslimen, die erstmals in der Geschichte individuelle Freiheit erleben.

[Dies ist die leicht gekürzte Dankesrede, die die Soziologin Necla Kelek zur Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat.]

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